Historisches Museum Basel
Tagung Provenienzforschung an Musikinstrumenten, Oktober 2024
Roland Baumgartner
Auf der Suche nach der Definition des Wortes „Provenienz“ bin ich auf diese zwei Aussagen gestossen:
- „Die Quelle, aus der etwas stammt oder abgeleitet ist“
- „Provenienz ist im Wesentlichen die dokumentierte Reise eines Kunstwerkes von seinem Ursprung über einen oder mehrere Besitzer bis zum heutigen Tag. Die möglichst lückenlose Besitzer- oder Eigentümergeschichte -diese beiden Begriffe sind ja bekanntlich nicht identisch- seit der Herstellung eines Objektes oder die geografische Herkunft, also wann und von wem ein Objekt hergestellt wurde“.
Demnach ist die Feststellung der Provenienz in zweifacher Hinsicht möglich:
- Erbauer, Hersteller, also um die geografische Provenienz des Objektes
- Chronologie der Besitzer resp. Eigentümer Provenienz.
Teil 1: Erbauer, Hersteller, geografische Provenienz des Objektes
Der Beruf des Geigen- oder Bogenbauers beginnt primär mit einer handwerklichen Ausbildung, eine allfällige Spezialisierung wird sich immer erst zu einem späteren Zeitpunkt ergeben. So z.B. eine schwerpunktmäßige Aktivität im Neubau, in der Reparatur, in der Restauration, im Handel oder eben in der Expertise. Nicht selten werden dann einzelne dieser genannten Gebiete parallel, respektive ergänzend, praktiziert. Einen separaten Beruf mit klassischem Bildungsweg zum Experten für Bögen und Streichinstrumente gibt es im eigentlichen Sinne nicht, eine Aus- und ständige Weiterbildung sind natürlich trotzdem Voraussetzung zu dieser Tätigkeit.
Es gab und gibt auch sehr gute Kenner, welche beruflich nicht aus dem Geigenbau Handwerk stammen.
Was sind die Voraussetzungen um als Experte für Streichinstrumente erfolgreich tätig zu sein?
Sicher hilft eine natürliche Begabung, d.h. eine gute visuelle Auffassungsgabe und ein entsprechendes Gedächtnis, im Extremfall auch „fotografisches Gedächtnis“ genannt.
Dies ersetzt aber in keiner Art und Weise die praktischen Grundlagen, im Gegenteil: Nur das Studium von anerkannt echten Referenzobjekten, der Kontakt und der damit verbundene Gedankenaustausch mit Kolleginnen und Kollegen, die nötige Bereitschaft für solche Zwecke Zeit und Geld zu investieren (z.B. Internationale Reisen, Besuch von Museen, anderen Werkstätten, Fachtagungen, Ausstellungen etc.), das Studium der Fachliteratur, das Anlegen eines eigenen Archives mit Bildern und Notizen -arbeitstechnische Details, verwendete Materialien etc. - können eine seriöse Basis für diese Tätigkeit bilden. Am wichtigsten ist das ständige Bewusstsein der Tatsache, dass man immer wieder dazulernen wird und auch muss. Dies ist auch der Hauptgrund, warum dieses Thema für mich immer spannend bleiben wird. Gerade in den letzten Jahren haben verschiedene Fachpublikationen neue Informationen über Lebens- und Arbeitsdaten veröffentlicht. Frühere Aussagen und Meinungen mussten revidiert werden.
Das Objekt Streichinstrument ist bekanntlich ein Werkzeug, um Klang zu erzeugen, dies für den Berufsmusiker genauso wie den Amateur, erwachsene Personen oder Kinder. Trotzdem kann man bei der Provenienzforschung zum Erbauer und zur geografischen Herkunft die klanglichen Qualitäten nicht verwenden. Von einem Kunstobjekt kann man zusätzlich sprechen, wenn es sich um ein Instrument handelt, welches in einem hohen Wertbereich angesiedelt werden muss. Dazu gehört das Abklären der Authentizität zwingend, das Resultat wird in der Regel in einem Echtheitszertifikat festgehalten.
Auf welcher Basis sollte also ein Kenner und Experte von alten Instrumenten arbeiten?
Ideale Voraussetzung wäre ein Instrument mit ungelöstem Originalzettel des fraglichen Erbauers gesehen zu haben.
Weiter ein möglichst grosses Kennen der Fachliteratur. Eine grosse, umfassende Bibliothek im eigenen Haus ist die ideale Voraussetzung, um jederzeit Zugriff zu haben. Dass im Arbeitsleben eines Experten auch ein umfassendes, persönliches Archiv entsteht, ergibt von selbst.
Ein Kommentar zum Thema Fachliteratur, am Beispiel von Stradivari:
Frühe Aufzeichnungen oder Notizen gibt es von den beiden italienischen Sammlern Conte Cozio di Salabue, 1755 – 1840 und Luigi Tarisio, 1790 – 1854. Tarisio war ein italienischer Kenner und Händler von erstklassigen italienischen Streichinstrumenten. Zwischen 1820 und 1846 brachte er eine große Zahl echter Amati-, Stradivari- und Guarneri-Geigen aus Italien nach London und Paris auf den Markt.
Die erste schriftliche Version mit detaillierteren Angaben ist eine handschriftliche Auflistung vom Pariser Geigenbauer Eugène Gand aus den Jahren 1870 – 1891, darin sind insgesamt 252 Stradivaris und Guarneri del Gesù Instrumente beschrieben.
Weitere Publikationen zu Stradivari Instrumenten sind u.a. die Bücher aus dem Hause W.E. Hill aus dem Jahre 1902, Doring „How Many Strads“ aus dem Jahre 1945, mit einer erweiterten Ausgabe von Bein und Fushi im Jahre 1999, Goodkind 1972, Ausstellung Cremona 1987, Jost Thöne 2010 und 2016 und ganz aktuell, eine Neuerscheinung von Beares Publishing. In letzterer sind 845 Instrumente aufgeführt. In dieser jüngsten Arbeit hat man sehr intensiv recherchiert, um über jedes Instrument möglichst viel in Erfahrung zu bringen. Dies mit weltweiten Kontakten zu Experten, Sammlern, Museen, Stiftungen, Musikern etc. Wo immer möglich sind auch die früheren Besitzer- resp. Eigentümer genannt.
Allgemein geht man davon aus, dass es ursprünglich 1‘100 bis 1‘200 Instrumente gab, welche Antonius Stradivari, teilweise auch unter Mithilfe seiner Söhne Francesco und Omobono, gebaut hatte.
Mein Bruder Michael Baumgartner arbeitet und forscht seit vielen Jahren zum andern grossen Cremoneser Meister, dem Stradivari Zeitgenossen Giuseppe Guarnerius del Gesù; seine in naher Zukunft bevorstehende Publikation wird die beste und umfassendste sein, welche zu diesem Thema je veröffentlicht wurde.
Wichtig ist auch das „Cozio Archiv“ des Auktionshauses Tarisio zu erwähnen, die dortige Auflistung wird laufend aktualisiert. Mehr als 3’500 Geigen- und Bogenbauer, über 36’000 Instrumente und Bogen und c. 210’000 Fotografien, viele Angaben zu Echtheitszertifikaten und Dokumenten und beinahe 60'000 Resultate aus dem Verkauf durch Auktionshäuser sind im Augenblick dort publiziert.
Gerade in diesem Archiv werden wo immer möglich die früheren und die aktuellen Besitzer aufgeführt, sehr oft ist dies aber nicht lückenlos möglich. Dies ist sehr einfach zu erklären:
Es ist nur logisch, dass eine antike Geige im Laufe der Zeit mehrmals die Besitzer oder Eigentümer gewechselt hat. Es ist fraglich wie weit zurück in die Vergangenheit, also bis zum Entstehungsdatum, eine solche Provenienz überhaupt rekonstruiert werden kann. Auf jeden Fall z.B. bei einer Stradivari Geige aus dem Jahre 1700 eigentlich unmöglich.
Die Idee, auch von einzelnen Kollegen, zumindest bei wertvollen Instrumenten die Eigentums- und Besitzverhältnisse nicht nur rückwirkend zu rekonstruieren, sondern auch die Namen des aktuellen und der zukünftigen Eigentümer öffentlich zugänglich zu publizieren, ist pures Wunschdenken. Sehr viele der heutigen Eigentümer, welche absolut legal und korrekt ein Instrument erworben haben, sind aus welchem Grund auch immer, nicht interessiert, dass ihr Besitz in der Öffentlichkeit bekannt wird. Nehmen wir als Beispiel einen Verkauf auf einer Auktion: Verkäufer, also Einlieferer, und Käufer sind dem Auktionshaus natürlich bekannt, aber in der Regel kennt weder der Verkäufer den Namen des Ersteigerers noch im umgekehrten Falle der Ersteigerer den Namen des Verkäufers. Bei einem Verkauf durch den Fachhandel ist es genauso.
Um nochmals auf das Cozio Archiv zurückzukommen, hier finden wir die Bestätigung dieser Praxis: Bis auf wenige Ausnahmen wird als Name des augenblicklichen Eigentümers «current owner», also «aktueller Eigentümer» genannt.
Weitere Anmerkungen zum Thema Fachliteratur im Allgemeinen:
Publikationen in früheren Zeiten haben ihre Informationen zum grossen Teil aus bereits zur Verfügung stehenden Veröffentlichungen verwendet. Dort vorhandene Fehler wurden oft übernommen. Erst in den letzten Jahrzehnten sind korrigierte Informationen zu Erbauern aus verschiedenen Ländern erschienen, für welche eine akribische und professionelle Quellenforschung betrieben wurde.
Auf Grund neuer Erkenntnisse mussten nicht wenige ältere Fakten korrigiert werden.
Dies kann ich gerne am Beispiel eines andern berühmten italienischen Geigenbauers, Joannes Baptista Guadagnini, 1711 – 1786, demonstrieren. Er arbeitete im Laufe seines Lebens in den Städten Piacenza, Mailand, evtl. kurze Zeit in Cremona, Parma und in Turin. Noch in dem im Jahr 1932 erschienenem Buch von Fridolin Hamma «Meister Werke Italienischer Geigenbaukunst» war man der Meinung, dass es sich dabei um zwei verschiedene Personen mit identischem Namen, nämlich Onkel und Neffe handeln muss. Nicht viel später konnte herausgefunden werden, dass nie ein Onkel mit demselben Namen als Geigenbauer existiert hatte. Weiter ging man davon aus, dass Giovanni Battista bei seinem Vater Lorenzo Guadagnini gelernt haben muss. Dieser besass aber nach aktuellem Wissensstand ab 1734 ein Gebäude mit einer Osteria, einer Metzgerei und einer Bäckerei in Bilegno nahe Piacenza. Entsprechende Dokumente wurden gefunden und sind im Jahre 2000 erschienenen Werk «Giovanni Battista Guadagnini» von Duane Rosengard nachzulesen. Es konnten keine Hinweise gefunden werden, dass Lorenzo je einen Background als Geigenbauer hatte.
Die frühesten bekannten, von Giovanni Battista in Piacenza gebauten Instrumente, stammen aus den Jahren 1740 und 1741. Diese zeigen eine hohe handwerkliche Qualität, eine Arbeit eines ausgebildeten Geigenbauers. Schlussfolgerung: Wir wissen nicht, wo, bei wem und wann er den Beruf erlernte oder bei wem er allenfalls gearbeitet hatte, bevor er in Piacenza seine Arbeit mit seinem Namen signierte.
Die Beurteilung:
Mit der geografischen Einstufung beurteilen wir, ob ein Instrument aus der deutschen, französischen, flämischen, italienischen etc. Schule stammt. D.h. dass der Erbauer in einem dieser Länder ausgebildet und tätig war.
Ich durfte in den vergangenen Jahrzehnten in Europa und in Übersee bei vielen internationalen Geigenbauwettbewerben als Jurymitglied mitarbeiten. Zu solchen Wettbewerben werden die Instrumente anonym eingereicht. Oft sind Teilnehmer jüngere Handwerker, welche noch nicht «Wanderjahre» in der grossen weiten Welt absolviert haben. Noch im 20. Jahrhundert war es meist relativ einfach zu erkennen, ob ein Erbauer in Mittenwald, Cremona oder Mirecourt ausgebildet wurde und dementsprechend meistens ein Deutscher, Franzose oder Italiener war. In der heutigen Zeit kann ich immer noch sagen, dass dies ein Instrument ist, welches jemand gebaut hat, der z. B. in der Geigenbauschule Cremona ausgebildet wurde. Ob er aber die italienische, deutsche, französische, chinesische oder koreanische Staatsbürgerschaft besitzt, oder in welchem Erdteil er heute seinen Beruf ausübt kann nicht einmal spekuliert werden!
Zukünftige Experten werden es also wesentlich schwerer haben die geografische Provenienz, respektive die Nationalität eines Geigenbauers festzustellen.
Nun zum praktischen Vorgehen:
Wir sprechen einerseits von den arbeitstechnischen Merkmalen und von der Modellgestaltung bei einem Instrument, also einfach ausgedrückt, von der Handschrift eines Erbauers.
Andererseits von materialkundlichen Details wie z.B. Charakteristiken der Grundierung und Lackierung, verwendete Holzarten für die Innenarbeit und den Einlagespan usw.
Technische Hilfsmittel:
Technische Hilfsmittel zur Untersuchung von Streichinstrumenten sind u.a. Ultraviolettes Licht, Mikroskop, Endoskop, Röntgenaufnahmen, Computertomografie etc., vor allem aber die Dendrochronologie. Gerade letztere hat in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte gemacht. Dendron= Baum, Chronos = Zeit, Logos = Lehre. Sie dient beim Nadelholz, also bei der Decke eines Instrumentes, in erster Linie der jahrgenauen Datierung, also dem Fälldatum des Baumes, aber nicht dem Datum, an welchem dieses Holz zum Bau einer Geige verwendet wurde. In der heutigen Zeit sind zudem weitere Aussagen möglich: Herkunft des Holzes, z. B. nördlich oder südlich der Alpen, ja sogar eine genauere geografische Eingrenzung der Herkunft des Nadelholzes, damit verbunden die ungefähre Meereshöhe, auf welcher der Baum gewachsen war und zudem Korrelationen mit andern, gesicherten Objekten, im optimalen Fall von einer Stammgleichheit mit einem andern Instrument dieses Meisters. In der Praxis ist die mit Sicherheit präziseste Aussage aber die des Ausschlusses: Ist bei einer fraglichen Stradivari das Jahr des Fäll Datums 1738 oder später, kann eine Echtheit definitiv ausgeschlossen werden, der Meister verstarb 1737!
Fälschung oder Kopie?
Mangels Zeit kann ich heute Themen wie Fälschungen, Manipulation betr. Zuschreibung eines Instrumentes an einen Erbauer oder allgemein ausgedrückt: Kriminelle Machenschaften, nur kurz ansprechen.
Eine solche am einfachsten nachzuweisen wäre wie erwähnt, wenn im Idealfall auf Grund der Holzdatierung das Werk eines Meisters ausgeschlossen werden kann.
Ich möchte hier folgende Unterscheidungen machen:
Eine Fälschung im Sinne einer kriminellen Tat, ist ein Instrument, welches einen andern Autor mit berühmten Namen vorspiegeln soll. Gerade in der englischen Schule gibt es einige solche Beispiele: am bekanntesten sind wohl die Brüder Voller Anfang des 20. Jahrhunderts in London.
Fälschungen gibt es aber nicht nur von Instrumenten, sondern auch von dazugehörigen Dokumenten und Echtheitszertifikaten.
Weiter kennen wir im englischen Sprachgebrauch den Begriff «bench copy». Damit ist eine exakte Kopie eines Originals gemeint im Sinne, dass das Original sinnbildlich, während dem Bau des neuen Instrumentes nebendran auf der Werkbank liegt. Auch hier sind v.a. Meister aus der englischen Schule prominent vertreten. Der Zweck war aber nicht das Vortäuschen und Vermarktung einer Fälschung, sondern mit einer hochwertigen Arbeit ein erstklassiges Instrument nachzubauen.
In vielen Instrumenten, in der Regel im unteren oder höchstens mittleren Qualitätssegment, gibt unterschiedlichste Texte auf Etiketten, wie «copie d’après Antonius Stradivarius…Fabriqué en France», «copy after Stradivarius», «Stradivari Copy made in Germany», also reine Modellbezeichnungen.
Wirklich hervorragende, in diesem Sinne gefährliche Fälschungen sind selten; andererseits wurden sehr bekannte Meister zum Teil auch bereits zu deren Schaffenszeit kopiert.
Ein leidiges Thema ist das «Umtaufen» von Instrumenten, d.h. ein kleinerer Meister wird mit dem Namen eines bekannteren und teureren Zeitgenossen versehen. Ein kriminelles Vorgehen, welches v.a. im 20. Jahrhundert stattfand. Stichwort eines Beispiels: «Berner Prozess».
Dank der digitalen Zeit, wie Veröffentlichungen mit Fotos in hoher Qualität in Auktionskatalogen oder im Web sind solche unseriösen Machenschaften zum Glück sehr erschwert worden.
Etwas harmloser, aber doch natürlich nicht weniger inkorrekt, ist das Verändern einer Arbeitsperiode. Eine echte Stradivari aus dem Jahre 1698 wird zu einer echten Stradivari aus dem Jahre 1710 «umgetauft», um so eine im Handel wertmässig höher eingestufte Arbeit aus der sogenannten «goldenen Periode» zu deklarieren.
Ein weiteres, schwieriges Thema sind Instrumente, welche reparatur- oder restaurationsbedingt verändert wurden oder bei denen nicht mehr alle Teile original sind.
Eine sehr wichtige Voraussetzung für einen seriösen Sachverständigen ist die Fähigkeit „Nein“ sagen zu können, d.h. offen zuzugeben, bei einem Objekt keine Auskunft erteilen zu können, weil man die Arbeit dieses Erbauers nicht kennt. Nie sollte man sich in einem solchen Fall verleiten lassen trotzdem eine Aussage zur Provenienz oder zum Wert zu machen. Seien Sie versichert, dass international anerkannte Kolleginnen und Kollegen zu dem einen oder anderen Objekt sagen müssen: „Ich weiß es nicht“ oder um zum Thema dieser Tagung zurückzukommen „für mich liegt ein Instrument mit ungesicherter geografischer Provenienz vor“. Die Formulierungen des Gutachters wie: „Meiner Meinung nach handelt es sich ...“ oder „Ich bin der Ansicht, dass ...“ sind nicht juristisch ausgeklügelt zum Selbstschutz, sondern sollen die persönliche Ansicht eines erfahrenen Fachmannes wiedergeben. Sicher bedeutend realistischer als die zum Beispiel von der Schweizer Expertenkammer bis 1975 verwendete Definition: „Die Kombination der naturwissenschaftlichen und stilkritischen Erhebungen hat ergeben, dass…». Eine Aussage, welche so rein von der Wortwahl her den Eindruck hoher Wissenschaft erweckt und für den Laien einen Hauch von Unfehlbarkeit mitschwingen lässt.
Ungefragte Meinung:
Ein anderes Thema, bei welchem ein Geigenbauer und Experte eigentlich immer im nur etwas falsch machen kann, ist die Problematik der ungefragten Meinung.
Fall 1: Ein Kunde bringt seine Geige zur Revision in die Werkstatt. Beim Besprechen welche Arbeiten nötig sind, stelle ich fest, dass die Zuschreibung an den auf dem Etikett genannten Meister nach meiner Meinung falsch ist. Ich teile dies dem Eigentümer mit, er wird böse, meint ich würde nichts davon verstehen, er hätte schliesslich ein Echtheitszertikat. Beleidigt legt er sein Instrument zurück ins Etui und zieht von dannen.
Fall 2: Ein Kunde bringt seine Geige zur Revision, die nach meiner Meinung nach falsche Zuschreibung spreche ich nicht an, er hat mich schliesslich nicht danach gefragt.
Nach einigen Jahren erkundigt er sich, ob ich ihm helfen kann die Geige zu verkaufen. Ich muss ablehnen, da ich mit der Zuschreibung an den Erbauer nicht einverstanden bin. Der Kunde ist böse und fragt mich, wieso ich ihm dies nicht schon früher mitgeteilt hätte.
Eine abschliessende mathematische und vielleicht auch etwas provokative Bemerkung zum Thema Provenienz im Hinblick auf den Erbauer: Aussagen, Einstufungen und Zuordnung kann ein Experte nur mit 100%iger Sicherheit und Garantie machen, wenn er dem Erbauer während der gesamten Bauzeit eines Instrumentes über die Schulter bei der Arbeit zusehen konnte.
Teil 2: Eigentümer oder Besitzer Provenienz
Bei Veranstaltungen und Publikationen in den letzten Jahren ging es beim Thema «Provenienz Abklärung» grösstenteils um die Provenienz betreffend der Vorbesitzer, resp. früherer Eigentümer, meist mit dem Schwerpunkt Raubkunst oder Raubgut aus der Nazizeit. Dabei ist aber unbedingt anzumerken, dass ein Instrument auch vor 1933 oder nach 1945 Gegenstand eines Diebstahles oder Raubes gewesen sein kann.
Zum Einstieg das Beispiel der «Luti Senn» Geige:
Die Guarneri del Gesù Geige war von 1921 bis 2000 im unverändertem Familieneigentum in der Schweiz, Besitzer seither „anonym“. Dieses Instrument ist also mit Sicherheit kein mögliches Raubkunst Objekt aus der Nazizeit. Aber wie kann man ausschliessen, dass diese Geige in den 200 Jahren vor 1921 bereits zu einem früheren Zeitpunkt Gegenstand eines Raubes oder Diebstahles war?
Aktuell habe ich versucht mehr über eine wertvolle französische Geige aus dem 19. Jahrhundert herauszufinden, welche jetzt durch die Erben des vor einiger Zeit verstorbenen Eigentümers, ein Berufsmusiker, verkauft werden soll. Leider erfolglos. Es ist zwar bekannt, dass der Musiker ein Instrument dieses Meisters spielte, aber wann und von wem er die Geige erworben hatte, ist unbekannt, es konnten keine Echtheitszertifikate, Rechnungen oder sonstige Unterlagen gefunden werden. Konsultationen im Cozio Archiv, in den Fachpublikationen, der „Art Loss Plattform London“ oder dem „Lost Art Datenzentrum Kulturgutverluste in Magdeburg“ ergab kein Resultat. In einem solchen Fall stellt sich für mich die Frage, ob nach sorgfältigen Nachforschungen, in welchen keinerlei Hinweise auf ein Raubgut aus der Nazizeit gefunden werden konnten, davon auszugehen ist, dass kein Naziraubgut vorliegt. Oder, dass in einem solchen Fall, in welchem nicht belegt werden kann, wie die Besitzverhältnisse in der Zeit von 1933 – 1945 waren, der Verdacht des Vorliegens eines Raubgut Objektes nicht widerlegt werden kann. Oder, einfacher formuliert, wäre demnach folgendes Voraussetzung um ein Objekt als mögliche Raubkunst aus der Nazizeit ausschliessen zu können: Entweder lückenlose Dokumentation oder nur mit Instrumenten handeln, welche nach 1945 gebaut wurden?
Als juristischer Laie würde ich persönlich hier die Interpretation „es gilt die Unschuldsvermutung“ als logische Schlussfolgerung sehen.
Verstehen sie mich bitte nicht falsch, natürlich gab es unsägliche Fälle, in welchen Streichinstrumente als Nazi Raubkunst betroffen waren, auch wenn die effektive Anzahl von ganz grossen Meistern wie Stradivaris und Guarneris, doch eher gering sein dürfte. Dass der Handel mit solchen Objekten in der Schweiz, aber auch in andern Ländern wie z.B. USA oder England stattgefunden hat ist bekannt. Jeder einzelne Fall ist einer zu viel. Aber es ist nicht so, dass jedes Streichinstrument, welches in diesen Ländern in der Periode zwischen 1933 und 1945 gehandelt wurde, als ein Raubgut oder Raubkunst Objekt aus dem Nazi Einflussbereich bezeichnet werden kann.
Dass aber nicht nur sehr wertvolle, sondern auch einfachere Instrumente als Raubgut betroffen sein können liegt auf der Hand.
Frau Bernheim berichtet z.B. von 8000 entwendeten Klavieren, dies waren sicher nicht alles teure Steinway-, Bösendorfer- oder Bechsteinflügel. Michael Custodis nennt eine Grössenordnung von mindestens 100‘000 geraubten Instrumenten. Diese beiden Zahlen sollen nur einen Bruchteil darstellen, da es noch eine riesige Dunkelziffer gäbe.
(Artikel NZZ vom April 2024: «Geigen für die Hitlerjugend»).
Damit Sie einen Eindruck erhalten wie gross die Anzahl der in Europa hergestellten Streichinstrumente von einfacherer bis mittlerer Qualität ist, nur als Beispiel zwei Zahlen:
Markneukirchen, Sachsen: Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts: pro Jahr, c. 430'000 Bögen für Streichinstrumente.
Mirecourt, Frankreich: Manufakturen mit je einigen hundert Mitarbeitern, Jahres Produktion pro Betrieb ca. 100’000 Instruente.
Wie viele sich davon 1933 – 1945 im Einzugsbereich der Nazis befanden, kann selbstverständlich nicht abgeschätzt werden.
Eine immens grosse Anzahl an einfachen Instrumenten, welche vor 1933 gebaut wurden, befindet sich auf dem Markt. Sie werden von Auktionshäusern, im Fachhandel und von Privat zum Kauf angeboten. Es ist unmöglich, für jedes einzelne Objekt eine gesicherte Eigentümer Chronologie zu erstellen.
Der sicher vielen von Ihnen bekannte Fall mit der «Sophie Hagemann Guarneri» hat über Jahre gedauert. Frau Hagemann hatte die Geige 1974 bei einem Kölner Geigenbauer gekauft. Nach ihrem Tod im Jahre 2010 wurde das Instrument in eine Stiftung eingebracht. Der Stiftungsrat hat sich proaktiv und intensiv damit beschäftigt, Informationen zu finden, welche die Möglichkeit einer Raubkunst Problematik aufklären sollte. Aus welcher Quelle und zu welchem Zeitpunkt der Kölner Geigenbauer die Geige erworben oder in Verkaufskommission erhalten hatte war nicht rekonstruierbar, lediglich dass der jüdische Besitzer einer Musikalienhandlung, Herr Hildesheimer, die Geige im Januar 1938 bei der Firma Hamma in Stuttgart gekauft hatte. Felix Hildesheimer sah sich im November desselben Jahres gezwungen sein Geschäft und sein privates Wohnhaus inklusive Hausstand zu verkaufen, resp. wurde von den Nazis enteignet. Da für dieses Instrument ein begründeter Verdacht eines Falles von Nazi Raubkunst bestand, hat die Stiftung nach langen Verhandlungen und juristischen Abklärungen auf Vorschlag der „Limbach Kommission“ eine Entschädigung an die eruierten Nachkommen ausgerichtet.
Die Nazis sollen jeweils eine detaillierte Aufstellung der beschlagnahmten, also geraubten Objekten erstellt haben. Nach jüngeren Informationen wurde eine solche im Falle Hildesheimer gefunden, nur… die Geige war darauf nicht verzeichnet. Niemand kann also demnach heute feststellen, ob dieses Instrument aus irgendeinem Grund auf der Auflistung unterschlagen wurde oder vom Händler Hildesheimer bereits kurz nach dem Erwerb des Instrumentes in Stuttgart womöglich im normalen Handel verkauft wurde.
Kommen wir kurz zurück zu den beiden Plattformen „Art Loss Register London“ und dem „Lost Art Datenzentrum Kulturgutverluste in Magdeburg“, Stand Juli 2024. Dort sind auch Instrumente und andere Kunstobjekte aufgeführt, bei welchen keine Nazi Raubkunst thematisiert ist, es kann sich auch um gestohlene Objekte nach oder vor 1933 handeln. Stand Ende Juli 2024 sind unter dem Suchbegriff „Geige“ diese Objekte verzeichnet.
Der bekannte Fall der Stradivari Geige aus Warschau und eine „Hopf“ Geige. Die Stradivari wurde 1946, eventuell auch früher, aus einem Museum entwendet.
Bei der Hopf Geige sind keine Fotos publiziert, die Beschreibung beschränkt sich auf «Hopf», Objektart: Musikinstrument. Dazu folgende Anmerkung:
Die Mitglieder der Familie Hopf waren als Geigenbauer seit 1659 aktiv, sie kreierten ein Geigen Modell, das sogenannte „Hopf Modell“. Viele dieser Instrumente trugen entweder ein Etikett, waren unsigniert oder wurden am Boden mit dem Brandstempel „HOPF“ versehen. Instrumente nach diesem Modell wurden in unterschiedlichster Qualität in Markneukirchen/ Sachsen auch in grossen Manufakturwerkstätten bis ins 20. Jahrhundert hergestellt. Insgesamt eine riesige Anzahl, und unter diesen soll nun die Geige eruiert werden, welche im oben erwähnten Suchregister aufgeführt wurde? Ich bin selbstverständlich immer empfänglich für Ideen wie dies geschehen soll, glaube aber schlichtweg nicht, dass dies möglich ist.
Dass ein so heikles Thema wie Nazi Raubkunst aber leider auch missbraucht werden kann, soll folgender Vorfall dokumentieren.
Im Jahre 1998 hat das Auktionshaus Bongartz in Köln sehr medienwirksam eine Geige versteigert, welche als „Shoofs“ Stradivari bekannt ist. Presse und Fernsehen wurden zur Versteigerung aufgeboten, den Zuschlag bekam der Geiger André Rieu. In Fachkreisen war die Geige bekannt und deren Echtheit, zumindest in wichtigen Teilen nach den damaligen, neueren Erkenntnissen, in Frage gestellt. Als der Käufer der Geige nach der Auktion davon hörte, wollte er natürlich vom Handel zurücktreten. Als Grund wurde aber vom Auktionator Bongartz der Presse nicht die Echtheitsproblematik kommuniziert, sondern eine erfundene Geschichte einer angeblich problematischen, unsicheren Herkunft, ein Raubgut könne nicht ausgeschlossen werden und da die Frau von Herrn Rieu jüdischen Glaubens sei, könne er unmöglich das Instrument behalten. Nachforschungen des Auktionators hätten ergeben, dass der Verkäufer, ein 1994 verstorbener, international angesehener Geigenbauer in Genf das Instrument an den Einlieferer zur Auktion 1972 verkauft habe, aber dass er alle Unterlagen vernichtet habe. Tatsache ist aber, dass die Tochter des Verkäufers alle Unterlagen noch vorweisen konnte, kurze Zusammenfassung: Die reiche jüdische Familie Shoofs wohnte in der Nähe von Marseille. Das Instrument wurde von ihr aus steuerlichen Gründen 1962 nach Genf zur Aufbewahrung gebracht und der Genfer Geigenbauer erhielt durch die Eigentümerfamilie 1972 den Verkaufsauftrag. Die hier bemühte Raubkunst Theorie war wissentlich falsch, die der Presse gelieferten Informationen sehr unanständig.
Lassen Sie mich schliessen mit einem Zitat aus der ORF Sendung, ausgestrahlt im Jahre 2016 zum Festival für klassische und alte Musik in Graz. Frage: «Warum spielen so viele jüdische Musiker die Geige?» Isaac Stern, der große amerikanische Geiger hat darauf eine erschütternde Antwort gegeben, er sagte: «Das ist das Instrument, das man sich am schnellsten schnappen kann, wenn man rennen muss.»
Grellingen/ Basel, im Oktober 2024